Fritz Pietz
Oldies but Goldies
Seit in den meisten Medien vorwiegend schlechte Nachrichten aus der ganzen Welt gebracht werden, höre ich – zumindest auf Autofahrten – immer öfter WDR 4. Lange habe ich die Selbstauskunft des Senders zu jeder Viertelstunde „WDR 4 – Musik aus den 60ern, 70ern, 80ern und den Klassikern“ falsch verstanden. Wahrscheinlich wegen meiner Hörschwäche. Ich verstand dann stattdessen „WDR 4 – der Sender für die 60er, 70er, 80er und für die Klassiker.“ Ich habe mich natürlich zu den Klassikern gezählt. Ja, als Gott mich schuf, wollte er angeben, das muss einfach mal gesagt werden.
Neulich hörte ich auf der Einfädelspur am Kamener Kreuz in Richtung Bielefeld „Born to be wild!“. Ich stellte des Autoradio auf volle Lautstärke, riss beide Arme hoch, ballte sie zu Fäusten und sang mit meiner hohen Fistelstimme aus vollen Halse mit. „Born to be wild!“ - ja, das war’s doch eigentlich, wofür ich – zumindest als Mann - auf die Welt gekommen bin. Ich weiß, auf einem Autobahnkreuz bei voller Fahrt beide Arme hochzureißen kann gefährlich sein, aber was soll's – No risk, no fun. Dieser Song weckte meine lange von mir selbst und in mir selbst verborgene Wildheit. Auf der Weiterfahrt in Richtung Bielefeld fragte ich mich dann: Wo und wann bin ich noch wild? Okay, ich esse gerne Wildspezialitäten, z. B. Rehrücken mit Preiselbeeren oder auch ein gut gemachtes Wildschweingulasch mit Pfifferlingen. Aber meistens hatte ich weder das Reh, noch das Wildschwein und auch die Pfifferlinge nicht selbst erlegt. Für mich müsste der Song eigentlich heißen „Born to eat Wildspezialitäten, ohne sie selbst erlegt zu haben.“. Ich fing an, mich vor mir selbst zu schämen. Analog zu Herbert Grönemeyers Hit „Wann ist der Mann ein Mann?“ hieß meine innere Frage „Wann kann ein mitteleuropäischer Mann noch wild sein?“ Im Songtext der Band „Steppenwolf“, die ja „Born to be wild“ aufnahm, heißt es in der ersten Zeile schon „Looking for adventures“. Ein wichtiger Hinweis, der mir gedanklich weiterhalf. Jeder Mann ist von seinem inneren Betriebsssystem dauernd auf „looking for adventures“ fest eingestellt. Aber dann? Es bleibt beim „Looking!“, dann passiert gar nichts. Richtig wild wäre es, dann vom Wollen auch ins Tun zu kommen, wie es heute so schön heißt. Aber was machen wir Kerle? Wir machen erst einmal eine innere Machbarkeitsstudie, weil wir gelernt haben, dass man bei jedem ungewissen Vorhaben erst mal eine Machbarkeitsstudie macht. Die Welt ertrinkt in Machbarkeitsstudien, deshalb wird ja so wenig gemacht! Das einzig wilde, was uns Männern wohl bleibt, um unsere Wildheit auszuleben, ist auf dem Kamener Kreuz in Richtung Bielefeld die Arme hochzureißen und „Born to be wild“ zu grölen. Armes Deutschland!
Als nächstes kam auf WDR 4 dann „No milk today“ von „Herman's Hermits“ aus dem Jahre 1966. Was für ein schlechter Song, der mich aber dennoch anrührte und die Tränen in die Augen trieb, was bei einer Autobahnfahrt fast so gefährlich war wie das wilde Hochreißen beider Arme. „No milk today“ handelt von einer zerbrochenen Liebe. Der Titel (englisch für ‚Heute keine Milch‘) beruht darauf, dass damals in England Milchmänner täglich die frische Milch an die Haustür lieferten. Da durch den Auszug der Geliebten eine Person weniger im Haushalt lebt, benötigt die Hauptperson „heute keine Milch“. Das ist für die erste Zeile eines Rocksongtextes gleichzeitig genial und gleichzeitig balla balla. Und genauso sollte ein Rocksongtext immer anfangen: Die Zuhörer bei etwas Bekanntem abholen - „no milk today“ - und dann mit einer überraschenden Wendung weitermachen -“my love has gone away“! Und schließlich im Laufe des Songs den inneren Zusammenhang aufklären, den man ja zunächst nicht sieht: dass seine Freundin eine Laktoseintoleranz hatte, deshalb krank wurde und vom vielen Milchtrinken schließlich starb. War es so? Natürlich nicht! In Wirklichkeit war es so, dass sie aus tierschutzrechtlichen Gründen auf Hafermilch umstellen wollte, er aber nicht, weil er meinte, dass ihm der tägliche Liter Milch eine gewisse Wildheit verlieh. Das fand sie wiederum irgendwie lächerlich, worauf er aber richtig wild wurde. Ein heftiger Streit entbrannte, in dessen Verlauf sie ihm eine volle Milchflasche an den Kopf warf. Als er am nächsten Morgen in einer Lache aus Blut und Milch erwachte, hängte er als erstes einen Zettel für den Milchmann an die Tür: „No milk today“. Dies ist die wahre Geschichte zu diesem tragischen Song, der es tragischerweise auch 1966 nur zu einem zweiten Platz in den Charts hinter den Kinks mit ihrem Song „Dandy“ schaffte. In einem traurigen schwarz/weiß-Video auf youtube sieht man noch heute „Hermann's Hermits“ am Fließband in einer hollländischen Milchfabrik Milch abfüllen.
Nach meiner Ankunft in Bielefeld aß ich erst mal einen Wildschweinrücken in Burgundersoße und nach dem Essen genehmigte ich mir einen Milchkaffee. Dann ging’s mir besser.