Pfarrer Markus Trautmann
„Plötzlich strömte Luft in den Keller“
Josef Waltring (geb. 1932), aufgewachsen im „Merfelder Hof“, erinnert sich an die Zerstörung Dülmens – und wie er sie überlebte
Der 21. März 1945 war der erste von „Dülmens apokalyptischen Tagen“, wie die Luftangriffe bei Kriegsende später bezeichnet wurden. Am Vormittag gegen 10.00 Uhr warfen alliierte Flugzeuge Sprengbomben auf das bis dahin beschauliche Landstädtchen; am Nachmittag gegen 15.00 Uhr wurden dann Brandbomben in die Trümmerlandschaft abgeworfen. Bis in den späten Abend hinein wurde versucht, die vielen größeren und kleineren Brandstellen im Stadtgebiet zu löschen. Auch der knapp 90 Meter hohe Turmhelm von St. Viktor hatte Feuer gefangen; er ragte wie eine riesige Fackel bis weit nach Mitternacht in den Himmel und stürzte am Ende krachend in sich zusammen. Der knapp 15jährige Josef Waltring vom „Merfelder Hof“ wollte sich dieses schaurige Schauspiel aus nächster Nähe ansehen und begab sich in Richtung Rathaus, das zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend unversehrt war. Dagegen lag die Marktstraße schon in weiten Teilen in Trümmern, ganze Giebelwände waren auf die Straße gestürzt. Neben dem ehemaligen Textilgeschäft Eichengrün waren Volkssturm-Männer damit beschäftigt, die noch erhaltenen Bestände des Lebensmittelgeschäfts Hill zu bergen, um sie an die Bevölkerung zu verteilen. Josef wurde kurzerhand aufgefordert, mitzuhelfen. Aus der Entfernung wurde er Zeuge, wie sieben italienische Kriegsgefangene (mit ihren typischen Federn am Hut) aus der „Scharre“ herausgeführt wurden, um vor der Stadt wegen „Feigheit vor dem Feinde“ erschossen zu werden. Ob es wirklich dazu kam, blieb unklar. Dann wurde Josef selbst als „Melder“ vor die Stadt geschickt: Ungefähr auf Höhe der „Schlossgarage“ hatten sich zwei oder drei Löschzüge aus dem Dülmener Umland, vermutlich aus Haltern, eingefunden. Sie mussten informiert werden, dass an ein Durchkommen in die Innenstadt nicht zu denken sei und sie dort nicht länger warten sollten. Als er seinen Auftrag erledigt hatte, ging Josef nicht zurück in die Innenstadt, sondern schlich sich in der einbrechenden Abenddämmerung durch den Vorpark heim zum „Merfelder Hof“. Seine Mutter war ganz aufgelöst und weinte: „Junge, wo warst du denn?“
Zuflucht im Keller
Am nächsten Morgen, dem 22. März, gelang es dem Vater Franz Waltring, für seine Frau und die beiden jüngeren Kinder eine Mitfahrgelegenheit in einem LKW zu organisieren, der nach Altenberge fuhr. Josef, der älteste, blieb beim Vater in Dülmen. Im Rückblick kann er es nicht fassen, mit welcher Seelenruhe er noch morgens die Straße vor dem Haus fegte! Denn um 14.00 Uhr ist es so weit: Was die Bomber am Vortag noch stehen ließen, wird jetzt endgültig in Schutt und Asche gelegt, auch Bereiche außerhalb der eigentlichen Innenstadt, also auch die Borkener Straße auf Höhe des „Merfelder Hofs“. Doch unvorbereitet ist man keineswegs, als das Inferno hereinbricht. Vater Waltring hatte im Vorfeld den Keller unterhalb der Gastwirtschaft zu einem eigenen Luftschutzraum ausgebaut: Mehrere massive Baumstämme standen senkrecht im Raum, um die mit schweren Planken unterfangene Decke abzustützen. Als die Sirenen den Angriff ankündigen, eilen Vater Waltring und Sohn Josef, ein Onkel mit einer Cousine sowie einige Soldaten in den Kellerbunker. Wo ist der Opa? Josefs Großvater, geboren 1871, hatte seit einigen Jahren durch eine schwere Diabetes beide Füße verloren und saß in einem Lehnstuhl, dem vier Rollen untergeschraubt waren. „Franz, ich gehe nicht mit“, lässt der alte Herr seinen Sohn resolut wissen. „Er zeigte überhaupt keine Angst und wollte oben in der Gastwirtschaft abwarten“, berichtet Josef Walting. Dort bzw. in den Sälen hatte die Wehrmacht beachtliche Rationen von Erbsen und Möhren sowie größere Mengen an Zuckervorräten gelagert. Als der „Merfelder Hof“ dann getroffen wurde, entzündete sich alles, und insbesondere der Zucker sollte dann noch tagelang inmitten der Trümmer brennen. Vom Großvater blieb nicht die geringste Spur übrig.
Die Situation im Untergeschoss sollte nicht weniger dramatisch sein. Durch die unglaublichen Erschütterungen der Angriffswelle hebt sich das gesamte Gebäude regelrecht in die Höhe. „Wir wurden im Keller wild durcheinander geschüttelt“, erinnert sich Josef Waltring. Als der Spuk vorüber ist, ist klar: Der Keller hat gehalten. Zwar ist das ganze Haus darüber eingestürzt, zwar brennt die hölzerne Kellertreppe – aber man hat es überstanden. Doch was ist das? Rauchschwaden ziehen in den Keller, es wird stockfinster. Sehr schnell merken die Eingeschlossenen, wie ihnen langsam aber sicher der Sauerstoff ausgeht. Josef Waltring weiß heute nicht mehr, wie lange sich der ganze Horror hinzog. Vielleicht zwei Stunden? Oder weniger? Panik breitet sich aus. „Einige Männer haben geweint wie kleine Kinder“, erzählt er, „sie lagen auf den Knien und haben laut gebetet.“ Eine derartige Todesangst habe er selbst zwar nicht empfunden, aber auch er spürte die Atemnot: „Wir kriegten einfach keine Luft mehr, wir erstickten.“
Unerwartete Wendung
Doch dann sollte es noch einmal ganz anders kommen. Plötzlich zerreißt ein lauter, ohrenbetäubender Knall die Dunkelheit. Der Zeitzünder einer niedergegangenen Bombe war erst jetzt explodiert, inmitten des zerstörten „Merfelder Hofes“, in unmittelbarer Nähe zum Keller. Ein größeres Loch klafft plötzlich an einer Stelle unterhalb der Kellerdecke! Die verschreckte Schar, die schon mit dem Leben abgeschlossen hatte, blickt hinaus ins Tageslicht – und frische Frühlingsluft strömt wohltuend in die stickige Tiefe. Einige Männer heben Josef empor, mit bloßen Händen zieht er weitere Ziegel aus der Wand und vergrößert so das Loch. Dann kriecht er hinaus ins Freie; er rennt über die Trümmer hinweg, umgeben von entsetzlichem Gestank, in Richtung „Central-Theater“, dem Kino am Hinderkingsweg. Die anderen kommen nach. Mit seinem Vater ruht sich Josef erst einmal beim Klempner Hahne im Garten aus – um sie herum das Grauen, ausgelöst durch die unzähligen Spreng- und Brandbomben. Gegen Abend rappeln sich beide auf und verlassen die Stadt in Richtung Dernekamp. Auf Höhe der Mühle Brüggemann legen sie sich erschöpft in den Graben und verbringen dort die schon fast sommerlich warme Nacht. Am nächsten Morgen, am 23. März, folgte Josef seiner Mutter und den Geschwistern nach Altenberge, wo er das Kriegsende erleben und die kommenden Wochen verbringen sollte.
Josef Waltring steht der Schrecken im Keller des elterlichen Gasthofes an der Borkener Straße im Rückblick nach mehr als 75 Jahren in aller Deutlichkeit vor Augen. Insgesamt aber überwiegt bei ihm ein Gefühl der Dankbarkeit darüber, dass ihm und den anderen Menschen, die damals im Kellerbunker Zuflucht gesucht hatten, buchstäblich in allerletzter Minute das Leben zurückgeschenkt wurde. Manche Details sind über die Jahre in der Erinnerung verblasst. Aber den Blick auf das vom Zeitzünder gerissene Loch in der Wand, durch das plötzlich frische Luft und Tageslicht den Todgeweihten entgegenströmt, wird er nie vergessen.
Dankbarkeit hat mit Nachdenklichkeit zu tun – mit dem Bewusstsein, dass das Leben niemals selbstverständlich und immer auch gefährdet ist; dass der Mensch Verantwortung übernehmen muss, um das Leben zu schützen und gut zu gestalten. Daher beunruhigt es Josef Waltring mitunter, wie gedankenlos heute jüngere Menschen mit ihrem Leben umzugehen scheinen. „Vieles ist heute so unglaublich oberflächlich geworden“, meint er, „alles wird einfach als selbstverständlich hingenommen.“ Dass dies absolut nicht der Fall ist, erlebte Josef Waltring am Nachmittag des 22. März 1945.